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Kulturpolitik ist kein Thema bei den Verhandlungen zur EU-Integration
Ein Email-Gespräch zwischen Magdalena Marsovszky und TBBvárnagy
Januar – April 2003

'Geschlossene Kultur - geschlossene Gesellschaft'
Ein Email-Gespräch zwischen Magdalena Marsovszky und TBBvárnagy
Januar 2006

Magdalena Marsovszky, in Budapest geboren, lebt seit 1979 in Deutschland. Sie graduierte als M.A. in Tübingen in den Fächern Kunstgeschichte, Ältere Deutsche Sprache und Literatur und Neuere Deutsche Literatur und als M.A. in Ludwigsburg in den Fächern Kulturwissenschaften und Kulturmanagement. Sie lebt und arbeitet als freie Wissenschaftlerin und Publizistin in München. Bevorzugt bearbeitet werden von ihr Themen wie die gesellschaftlich-politische Kulturkritik, Kultur- und Medienpolitik in Ungarn, Ungarns Integration in die EU im Hinblick auf die Kultur- und Medienpolitik und auf die kulturelle ‚Globalisierung’ sowie auf den Antisemitismus als kulturelle Haltung.
Seit 1996 ist sie ehrenamtliches Mitglied im Sprecherrat der Kulturpolitischen Gesellschaft/ Landesgruppe Bayern.
1999 bekam sie den Sonderpreis der Ungarischen Akademie der Wissenschaften für Ihre Studie ‚Ungarns kulturpolitische Integration in die Europäische Union’.
Publikationen in Deutsch, Ungarisch, Englisch.


T: Beginnen wir mit der Konferenz über die europäische Kultur, die Ende November in Budapest stattfand! Einer der Teilnehmer dieser Veranstaltung, der in Wien lebende Paul Lendvai (Chefredakteur der Europäischen Rundschau, Leiter der Studio Europa des ORF-TV) sagte in der Sendung ’Kulturhaus’ des öffentlich-rechtlichen ungarischen Fernsehens – in Bezug auf die aktuellen Ausschreitungen in Frankreich - beinahe wortwörtlich dasselbe, was Du gegen Ende unseres Gespräches vor gut drei Jahren gesagt hast. Er fing damit an, dass die EU einen immens großen Teil seines Gesamtbudgets z.B. für die Landwirstchaft verwendet, während die landwirtschaftlichen Produkte nur 3,5% der durch die EU produzierten Waren ausmachen. Demgegenüber verwendet die EU kaum Gelder für die Kultur, bzw. wir hätten überhaupt keine gemeinsame kulturelle Strategie: Obwohl, sagte Lendvai, dem, was jetzt in Frankreich passierte, hätte mit entsprechender Kulturpolitik vorgebeugt werden können. Ich denke, es würde sich lohnen, unser Gespräch an dieser Stelle fortzusetzen. Wird jetzt endlich etwas passsieren?

M: Auch ich war an dieser Konferenz anwesend, sie trug den Titel ’Inclusive Europe? – Horizon 2020’, und sie fand zwischen dem 17. und 19. November in Budapest statt. Der aktivste zivile kulturelle Verein auf europäischer Ebene, in dem Lobbyisten zusammengeschlossen sind, das EFAH (European Forum for Arts Heritage), weiterhin der Cultural Contact Point in Ungarn (Kulturpont Iroda), das Budapest Observatory und das Ministerium für das Nationale Kulturerbe Ungarns (so wird das Ministerium für Kultur genannt) zusammen organisierten. Die Konferenz war Teil eines Prozesses: Die erste Station war in Berlin 2004 mit dem Titel ’ 'Soul for Europe' (Europa eine Seele geben), die zweite in Paris im Mai 2005 mit dem Titel 'Rencontre pour l'Europe de la Culture' (Zusammenkunft für ein kulturelles Europa), und die Fortsetzung folgt in Granada Ende April.

All dies bedeutet, dass 2004 mit einem Dialog angefangen wurde, dessen Thema die Kulturen in Europa sind, und das ist eine eindeutig positive Entwicklung. Herr Lendvai hat recht, wenn er über die Finanzierung der Kultur spricht, da im Budget der EU nur ein verschwindend kleiner Teil für Kultur verwendet wird.

Gleichzeitig sind aber solche grundsätzliche Fragen nicht geklärt, wer was z.B. unter Kultur oder Kulturpolitik versteht. Man spricht über Kulturpolitik, was in Westeuropa ein wertfreier Begriff ist. Gleichzeitig weiss man dort nicht, dass in den ehemaligen sozialistischen Ländern ’Kulturpolitik’ selbst 15 Jahre nach dem Systemwechsel noch immer kein wertfreier Begriff wurde. Er konnte seine früheren negativen Konnotationen noch immer nicht ablegen. Und dies trotz der Tatsache, dass es in der internationalen Wissenschaft, wenn auch geringfügig unterschiedliche, jedoch allgemein akzeptierte Definitionen gibt. In den postkommunistischen Staaten wird dieser Begriff noch immer mit der Diktatur im Einparteienstaat gleichgesetzt. Die bekannte Historikerin, Eva Standeisky schrieb z.B. vor drei Jahren über Kulturpolitik Folgendes: „Die Kulturpolitik bedeutet, dass die Macht die Kultur erdrückt, statt ihre natürliche Autonomie zu stärken und sie wie durch eine Hülle gegenüber kulturfeindliche Einflüsse zu schützen. Die Kulturpolitik will sowohl ideologisch, als auch finanziell die Gesamtheit der Kultur beherrschen. Besonders ausgeprägt ist dies im geistigen Leben, in den Künsten und in der Wissenschaft zu spüren, doch auch das Unterrichtswesen und die Bildungspolitik, die viel mehr Geld verschlingen und viel mehr Aufwand an Organisation brauchen, könnten gerne auf die ideologische Bevormundung durch die Macht verzichten” (2003:123). Diese Definition zeigt deutlich, dass der Begriff manchmal sogar noch heute als Schimpfwort gebraucht wird, und das ahnt man in Westeuropa vielfach nicht einmal.

T: Ich glaube, in Ost- und Mittelosteuropa will die Kulturpolitik deshalb die Gesamtheit der Kultur beherrschen, weil die Kulturpolitik Angst vor der Kultur hat, und zwar deshalb, weil sie sie nicht kennt. Nach meiner Auffassung ist die Aufgabe von Kultur in der Gesellschaft, Konflikte und Probleme aufzudecken, um sie dadurch besser in den Griff kriegen zu können und sie schliesslich zu lösen. Demgegenüber benutzt die hiesige kulturpolitische Elite die Kultur und die Kulturpolitik für ihre eigene Identifikation. Dies konnte deshalb so weit kommen, weil Ungarn – aber, ich glaube, auch die anderen Länder der Region – in den letzten hundert bis hundertfünfzig Jahren ziemlich häufig Regimewechsel erlebten, d.h. die politische Elite wurde oft vollständig oder zum großen Teil ausgetauscht. Seit 1867 ging dies besonders in den Jahrzehnten unmittelbar nach einem Regimewechsel immer damit einher, dass die Mainstream-Kultur von den Erwartungen der politischen Elite dominiert wurde. Weil zudem keine der Regime länger als ein halbes Jahrhundert Bestand hatte – während es welche gab, die das zwanzigste, andere aber, die nicht einmal das erste Jahr erlebten – wurde das kulturelle Leben nie autonom. Man könnte es eher so formulieren, dass hier oder dort kulturelle Inseln entstanden, die ihre Autonomien für kürzere oder längere Zeiten erhalten konnten, so z.B. nach der Jahrhundertwende die Zeitschrift ’Nyugat’ (Der Westen) oder Lajos Kassák und die Gruppierungen um ihn herum.

In unserem letzten Gespräch hast Du darauf hingewiesen, dass die ungarische – und sicherlich nicht nur die ungarische, sondern die gesamte post-sowjetische – parlamentarische Linke manchmal sogar rechts von den westeuropäischen Rechten steht. Jetzt sehen wir tatsächlich, dass in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten der politische Diskurs und die Denkweise in Osteuropa einen grundsätzlichen Rechtsruck erlebten (vorausgesetzt, wir nehmen überhaupt an, dass sie früher weniger konservativ war): also statt, dass nach der Wende die zivile und kritische Denkweise zugenommen hätte, wurde in Wirklichkeit eine rechtslastige Rhetorik dominant und selbstverständlich. Es ist also klar, dass die Entwicklung eine andere Richtung eingeschlagen hat, aber was ist der Grund dafür, dass es so gekommen ist?

Ich glaube, das erste Problem ist, dass seit der Wende bis zum heutigen Tag nicht durchdiskutiert wurde, ob das sowjetische Regime wirklich sozialistisch war oder nicht. Nach der Meinung mancher mir wichtiger westlicher Denker war es das nicht, was auch ich ihnen nicht unbedingt abnehmen würde, hätte ich nicht hier gelebt. Aber nach 1968 sind an beiden Seiten der Mauer immer mehr Menschen darauf gekommen – viele bereits vorher -, dass der sowjetische Block nicht einfach ein schlecht gelungenes links orientiertes System ist, sondern eine im Sinne der Verhandlungen von Jalta relativ gut funktionierende, starke, mit feudalen Traditionen ausgestattete, paternalistische, staatskapitalistische Diktatur.

Das neue, gegenwärtige System versuchte sich dadurch zu identifizieren, dass es sich vom vorherigen abgrenzte, was insofern auch in Ordnung ist, dass das vorherige eine scheinparlamentarische Parteidiktatur war, diese aber eine parlamentarische Demokratie ist. In den ersten Jahren wurde darauf tatsächlich viel Wert gelegt, als aber dann etwas später die politische Rechte die parlamentarische Linke vehement als ‚kommunistisch’ beschimpfte, wurde man nachdenklich. Denn das größte Problem damit war gerade, dass man sie beim besten Willen kaum links oder sozialdemokratisch nennen konnte.

Und dann musste man einsehen, dass sich hier eine eigenartige Pattsituation entwickelt hat: die Linke wird sich die Kommunisten-Beschimpfungen nicht verbieten, weil diese für sie noch immer besser ist, als wenn man sie beschuldigen würde, nie Kommunisten gewesen zu sein. Diese Situation wird aber dann wirklich problematisch, wenn die erste Generation der bereits im heutigen System sozialisierten Jugendlichen herangewachsen ist, die – da sie keine Geschichtserfahrungen hat – glaubt, dass es hier Kommunismus oder Sozialismus gab und nicht versteht, wieso dann die Vertreter der früheren Einparteiendiktatur in diesem neuen Regime verantwortungsvolle Positionen einnehmen können. Ich glaube also, das ist der Grund, warum ein großer Teil der seit der Wende aufgewachsenen Jugendlichen in Ungarn konservativ und nationalistisch ist. Und ich befürchte, die Situation in den anderen postsowjetischen Ländern ist ähnlich.

M: Ist das wahr? Ist die Mehrheit der Jugendlichen in Ungarn wirklich konservativ und nationalistisch?

T: Die Untersuchungen über Parteipräferenzen zeigen seit Jahren, dass die Fidesz-MPSZ (Fidesz-Ungarische Bürgerliche Union) bei den Jugendlichen immer eindeutig beliebter ist als die MSZP (Ungarische Sozialistische Partei). Umgekehrt ist es genauso. Die Nachfolgepartei ist bei der älteren Generation beliebter, die sich im Klaren darüber ist, dass sie viel eher mit solchen Gemäßigten gleichgesetzt werden kann, die die gegebenen geopolitischen Erwartungen pragmatisch bedienen, als mit einer politischen Linken. Sie weiß, dass die Mitglieder der Nachfolgepartei, die Reformer der ehemaligen Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei, Parteiapparatschiks waren, und im Gegensatz zu den früheren Generationen der ehemaligen Staatspartei – die noch aus der Arbeiterbewegung der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg kamen – eine weniger ideologisch bestimmte und den Umständen entsprechend professionelle Politik betreiben wollten (die Soziologin Erzsébet Szalai nennt sie die ‚Technokraten der späten Kádár-Ära’ ).

M: Es wäre nicht schlimm, dass die Jugendlichen konservativ sind, wenn sie dabei demokratisch blieben.

T: Zwischen 1998 und 2002 war für die politische Rechte die Demokratie nicht sonderlich wichtig. Ich brauche nur zu erwähnen, dass sie die Zahl der Plenarsitzungen verringerte, die Protokolle der Regierungssitzungen unter Verschluss setzte, das Haushaltsjahr auf zwei Jahre ausdehnte usw. Gleichzeitig dürfen wir nicht vergessen, dass sich die sozialliberale Koalition in der Legislaturperiode zuvor auch nicht als absolut demokratisch erwiesen hatte (siehe die Volksabstimmung zum Nato-Beitritt, oder z.B., dass schon der damalige Ministerpräsident seltener im Parlament erschienen war und dadurch indirekt die Zahl der unmittelbaren Interpellationen an ihn verringert hatte). Nach den Wahlen 2002 ist das Bild erneut widersprüchlich, obwohl die sozialliberale Koalition demokratischer zu sein scheint als die parlamentarische Rechte (die wöchentlichen Plenarsitzungen, das jährliche Haushaltsjahr – und natürlich die jährliche Debatte um das Haushaltsjahr – wurden wieder eingeführt usw.). Gleichzeitig nahm Ungarn zwar zurückhaltend, doch immerhin an der Belagerung des Irak teil, obwohl dies auch von der überwältigenden Mehrheit der hiesigen Öffentlichkeit abgelehnt wurde. Wenn ich zynisch sein wollte, müsste ich sagen, dass nicht einmal das der Fehler war, denn durch unsere geopolitische Lage haben wir nicht die Freiheit eines Deutschlands oder Frankreichs. Der Fehler liegt vielmehr darin, dass unser diplomatisches Manövrieren nicht immer ganz geglückt ist und in der Tatsache, dass sich die Polizei im Zusammenhang mit der Genehmigung des Straßenzuges der Demonstrierenden gegen den Krieg schikanös verhielt.

Doch zurück zu unserem ursprünglichen Thema. Im Großen und Ganzen entwickelte sich die auf den ersten Blick paradoxe Situation, dass wir zwar auf der rhetorischen Ebene die Kulturpolitik des früheren Regimes verurteilen, in vieler Hinsicht aber alles beim Alten blieb: Jetzt stellen wir zwar unsere öffentlichen Plätze nicht mit Stalin- oder Lenin-Statuen voll, aber es stört niemanden, wenn sie ebenfalls durch politische Denkmäler ersetzt werden. Den Vorrang haben jetzt eindeutig solche Denkmäler, die der Identität der politischen Rechten nützen, was aber auch auf die Linke eine entscheidende Anziehungskraft ausübt. Zudem sind die Straßen und öffentlichen Gebäude weiterhin nach nationalen Helden benannt, und ebenso sind auf unseren neueren Geldscheinen deren Porträts zu sehen. Auch die Höhe des Budgets und die Autonomie der Kulturinstitute – die der Bildungseinrichtungen inbegriffen – hat sich im Verhältnis zu den 80er Jahren kaum verändert. In diesem relativ kleinen und noch immer nicht ganz offenen kulturellen Markt können von der politischen oder wirtschaftlichen Elite selbst jetzt nur die kulturellen Bereiche oder die Kulturinstitute wirklich ausreichende finanzielle Förderung bekommen, die ihre Autonomie aufgeben und bereit sind, dem Identifikationsanspruch oder im schlimmeren Fall dem Repräsentationsanspruch der jeweiligen Elite zu entsprechen.
Beispiele dafür werden wir in diesen Tagen sehen, wenn als Ergebnisse der Ausschreibungen bekannt gegeben wird, welche Filme, Ausstellungen und Theaterproduktionen zum 50sten Jahrestag der 1956er Revolution gezeigt werden. Die Aufstellung neuerer politischer Denkmäler will ich hier erst gar nicht erwähnen.

Oder da ist ein anderes Beispiel: Vor einigen Jahren hat einer der reichsten Unternehmer einen Preis gestiftet, den von Jahr zu Jahr die besten Vertreter der hiesigen Kultur bekommen sollen. Einer der ersten Preise wurde an einen Bildhauer verliehen, der im früheren Regime die meisten und repräsentativsten öffentlichen politischen Denkmäler schuf (unter anderem seitdem abgerissene Lenin-Statuen), und der bereits im früheren Regime jeden erdenklichen staatlichen Preis bekommen hatte. Dazu möchte ich nur so viel hinzufügen, dass der Bildhauer kein anderes, für die zeitgenössische osteuropäische Kunst relevantes Oeuvre vorweisen kann. Warum hat man den Preis nicht an einen Kollegen verliehen, der 1966 das erste Happening in Ungarn veranstaltete und seitdem unser bedeutendster zeitgenössischer Künstler ist?
Zum Teil, weil sein Oeuvre dem breiteren Publikum nicht richtig bekannt ist, obwohl seine Werke in den letzten anderthalb Jahrzehnten sehr wohl hätten gezeigt werden können. Sie sind aber deshalb nicht gezeigt worden, weil seine Werke bis zum heutigen Tag unangenehme Fragen aufwerfen und neuralgische Punkte berühren: Sie sind unangenehm. Das zeigt, dass die zeitgenössischen Künstler, die wirkliche Werte schaffen, dem breiteren Publikum unbekannt sind. Demgegenüber waren diejenigen, die im letzten Jahrzehnt durch die Boulevardpresse oder durch die für ein breiteres Publikum zugängliche, also nicht fachspezifische Presse, wie z.B. durch das Radio und das Fernsehen, als Künstler bezeichnet wurden (und als Frau Künstlerin oder Herr Künstler angesprochen), in der Mehrzahl Humoristen, Kabarettisten, Operettenschauspieler oder Popsänger und im schlimmsten Fall Pornodarstellerinnen. Wenn ich also verstehen möchte, warum der bedeutendste Bildhauer für das öffentliche politische Denkmal des früheren Regimes als Erster den Preis des 21sten Jahrhunderts bekam, dann liegt der Grund wahrscheinlich darin, dass man hier einen Namen suchte, der einem breiteren Publikum überhaupt bekannt ist.

M: An dieser Stelle würde ich gerne den Gedankengang der ‚unangenehmen Fragen’ und ‚der authentische Werte’ aufgreifen. Zu bestimmen, welche Werte die ‚authentischen Werte’ sind, ist sehr schwer. Vielleicht kann man sich dem Problem nur durch Fragen nähern. Ist es z.B. ausgeschlossen, dass ein Kunstwerk, das mit erheblichen staatlichen Mitteln gefördert wurde, authentische Werte repräsentiert? Oder kommen diese nur in Projekten vor, die NGO-s ohne staatliche Unterstützung, aus eigener Kraft zustande bringen? Diese Frage wirft sofort eine neue Frage auf: Was sind echte NGO-s? Vielleicht die ‚bürgerlichen Kreise’(1) ? Wir merken sofort: Das ist wirklich ein Dilemma. Man könnte sich vielleicht der Antwort vorsichtig so nähern, dass wir sagen, wirkliche Werte sind diejenigen, die die Gesellschaft demokratisieren, statt dass sie das Demokratiedefizit verstärken.

T: Das von mir erwähnte Beispiel vorhin im Zusammenhang mit dem Bildhauer unterstützt diese These nur unmittelbar, aber ich spreche gerade darüber, dass durch die Kulturpolitik des früheren Regimes, die wir heute vehement verurteilen, und die wir immer mit den Kategorien ‚geduldet, gefördert, verboten’ beschreiben, ein kulturelles Produkt entstand, das man nach der Wende unbedingt hätten neu bewerten müssen. Es wäre zum Teil wichtig gewesen, dass die früher verbotenen Werke von der Öffentlichkeit bekannt gemacht worden wären. Vor diesem Hintergrund hätte man die geduldeten und geförderten Projekte neu überdenken können, damit man klärt, was bleibt, was nicht, und dies unabhängig davon, was die damaligen Kulturpolitiker von den fraglichen Werken hielten. Wir haben keinen Grund zu denken, dass alles, was man verboten hat, hervorragend war. Andererseits waren auch die verbotenen Projekte nicht immer low-budget und unabhängige Projekte: Es gab welche, die schon in der Phase ihres Entstehens sogar eine große staatliche Förderung bekamen. Alles in Allem denke ich, dass in der Kategorie der Geförderten in den seltensten Fällen hervorragende Werke entstanden. Doch nehmen wir an, ich sei voreingenommen: Deshalb sage ich, man müsste es wirklich prüfen.

Das Ergebnisse der Bemühungen des gegenwärtigen Regimes sehen wir alle, und was die ‚höfische Kunst’ anbelangt, ist das Ergebnis katastrophal. Ich glaube, in den letzten Jahren spielte die Qualität bei der Errichtung von Denkmälern auf öffentlichen Plätzen in den meisten Fällen einen vollkommen zu vernachlässigenden Gesichtspunkt: Das Aufstellen von Denkmälern ist heute pure Besetzung öffentlicher Plätze, deren Funktion darin besteht, dass jede der miteinander rivalisierenden Parteien an entsprechenden Tagen des Jahres die Gelegenheit für Kranzniederlegungen und somit die Möglichkeit für Medienpräsenz gegeben wird. Und was die Feierlichkeiten im Zusammenhang des bevorstehenden Jahrestages der 1956er Revolution anbelangt: Ich glaube, dass die zu diesem Anlass angefertigten Filme, Theaterstücke und Ausstellungen ohne Ausnahme mittelmäßig sein werden. Denn wenn es einen Künstler gäbe, der die Aufgabe ernst nimmt, neue Gesichtspunkte aufwirft und neue Wege der Annäherung sucht, so würde er sicherlich bei den Kuratoriumsmitgliedern verbluten, weil deren einziges Ziel es ist, die eventuell angreifbaren, auffallenden und ernsthafte Auseinandersetzungen provozierenden Werke auszusondern. Solche Werke könnten nämlich nur in dem Fall gezeigt werden, wenn die Autonomie der Kuratorien auch bei uns so stark wäre wie in West-Europa. Doch, damit solche Kuratorien entsprechend funktionieren, braucht man auch eine entsprechende Presse und eine Öffentlichkeit. Ich glaube also, das wäre eine Arbeit von Jahrzehnten.

Ich glaube, an dem Punkt brauchen wir nicht vorsichtig zu sein, dass wir alles, was die Gesellschaft und nicht nur die Gesellschaft, sondern die Kultur, die Künste und das Nachdenken über die Künste demokratisiert, als kulturellen Wert anerkennen, denn: Wenn es überhaupt einen gemeinsamen Nenner zwischen den unterschiedlichsten Richtungen der modernen Künste gab, dann lag er gerade darin.

M: Und an diesem Punkt beginnt die Bedeutung der ‚unangenehmen Fragen’ in der Kultur und in der Kunst eine große Rolle zu spielen. Denn, wie Du auch sagst, wenn sie neuralgische Punkte berühren und damit die Schwächen der Gesellschaft aufdecken, dann sind sie unbequem und nerven, doch die durch sie motivierte Auseinandersetzung bringt die Gesellschaft voran. Und hier wird auch die Rolle der Kulturpolitik wichtig: Die Frage ist, wie sie mit ihrem Fördersystem erreichen kann, dass sie mit ‚unangenehmen Fragen’ die Aufmerksamkeit auf neuralgische Punkte lenkt und damit zur inzwischen von vielen herbeigesehnten gesellschaftlichen Katharsis beiträgt.

T: Wenn die Kultur autonom ist, d.h. wenn weder die politische, noch die wirtschaftliche Elite sie zu kontrollieren oder ihr die eigenen Erwartungen aufzudrängen versucht, dann wird sie fähig, all die Konflikte aufzudecken, deren Vernachlässigung aber zu gewichtigen gesellschaftlichen Kataklismen führen kann. Das klingt im Prinzip schön und edel, doch wenn der Arzt diagnostiziert, was einem fehlt und sagt, was wir ändern müssen, dann ist das im Allgemeinen nicht angenehm. Ich habe in Ungarn beobachtet, und ich nehme an, es ist auch in den anderen postsowjetischen Ländern ähnlich, dass wir mehr Angst vor Kulturskandalen haben, als die Länder, die weniger defizitär in ihren Demokratien sind. Und natürlich deshalb, weil wir keine Erfahrungen haben. In Skandalen sehen wir das Zerstörerische und nicht den heilsamen Prozess, der bis dahin nicht berührte, oder vernachlässigte, jedenfalls nicht durchdiskutierte Themen zu Tage bringt.

M: Du hast recht, auch ich sehe das so. In Deutschland begann man in den 70er Jahren einzusehen, dass ein Skandal nicht nur zerstörerisch ist. Darin spielte die sog. ‚Neue Kulturpolitik’ (das ist heute bereits Terminus technicus) eine große Rolle. Sie wurde eigentlich durch den Kniefall von Willy Brandt jetzt vor 35 Jahren vor dem Denkmal des Warschauer Gettoaufstands eingeleitet. Seitdem wurde die bundesdeutsche Kulturpolitik im Zeichen von Brandts Aufruf ‚Mehr Demokratie wagen!’ geführt. Wollten wir das Ziel der damaligen Kulturpolitik zusammenfassen, könnte es vielleicht folgendermaßen lauten: Fördern, was unangenehm ist und irritiert. Das war das Wesentliche in der in vielen anderen Ländern beneideten Vergangenheitsbewältigung und nicht eine Art ‚Selbstgeißelung’ als Selbstzweck, wie das in Ungarn vielfach angenommen wird.

T: In Deutschland, in Österreich und natürlich auch in Ungarn – um andere nicht zu erwähnen – ist nach dem Zweiten Weltkrieg ein Systemwechsel erfolgt. Nach dem Krieg begann überall ein kräftiger Demokratisierungsprozess, aber er verlief dann überall ganz anders. Ich glaube der Auftritt Willy Brandts wäre unvorstellbar gewesen, wenn ihm im geistigen und kulturellen Leben Deutschlands nicht solche verblüffende und provokative Gedanken zuvorgekommen wären, wie diejenigen, die in den Werken von Adorno, Beuys und anderen bereits seit Anfang der 50er Jahre aufgekommen waren.
In Ungarn begann in den 50er Jahren eine – mit dem Namen Révais gekennzeichnete – Kulturpolitik, zu deren positiver Seite die erfolgreiche Überwindung des Analphabetismus zählte. Es wurden massenweise Klassiker, vor allem die Realisten des 19. Jahrhunderts herausgegeben, die nur ein paar Heller kosteten. Ihre Schattenseite bedeutete jedoch die Doktrin, die man mit dem Begriff ‚sozialistischer Realismus’ umschreiben könnte, die also die autonome zeitgenössische Kultur in die Illegalität zwang (angefangen von der non-figurativen und abstrakten Kunst über die zeitgenössische Musik und die Psychologie bis zur Soziologie; ich könnte nicht einmal all das aufzählen, was als unerwünscht galt).

M: Diese Vergleiche sind wirklich sehr wichtig. Sie machen uns bewusst, wie unterschiedlich die Entwicklung zwischen den westlichen Demokratien und den ehemaligen sozialistischen Ländern war. Kein Wunder, dass wir uns nicht verstehen. Nehmen wir z.B. den Begriff der Kultur. Auch in diesem Zusammenhang gibt es sehr viele Missverständnisse. Alle denken, es gäbe einen Konsens über diese Begriffe, in der Praxis stellt sich aber heraus, dass es die überhaupt nicht gibt. Es ist bei weitem nicht immer klar, wer was unter Kultur und Kulturpolitik versteht, während man unter Umständen genau über diese Gebiete miteinander verhandelt.
Obwohl in Deutschland weniger, aber auch im Westen kommt es vor, dass man über die Kultur spricht und ganz einfach Kunst meint, die zwar zur Kultur gehört, aber sie ist nur ein Teil von ihr. Viele erwähnen die Begriffe ‚offene Kultur’ oder ‚im weiten Sinne aufgefasste Kultur’, ihre Umsetzung in die Praxis zeigt jedoch, dass sie doch den engen Kulturbegriff meinen. Das ist bei Ausschreibungen zu irgendwelchen Projekten gut zu beobachten.

Das ist ein Teufelkreis, der immer wieder zu Missverständnissen führt, und ich glaube, es wäre zu viel verlangt, zu erwarten, dass auf europäischer Ebene kulturpolitische Strukturen und Konzeptionen entstehen, solange man diese Begriffe nicht klärt. Zudem bleiben die Politiken und Programme der Europäischen Union, die die Kultur betreffen, eher auf solche ‚harmlose’ Bereiche beschränkt, wie der Austausch und die Kooperation von künstlerischen Projekten. Strukturelle Veränderung sind nicht in Aussicht. Das bewirkt die Verengung des Kulturbegriffes, was kein zu vernachlässigendes Problem ist, und bewirkt gleichzeitig die Stabilisierung des bestehenden demokratischen Defizits in den Strukturen der Kulturpolitik der postkommunistischen Staaten: Denn statt von der Denkweise in nationalstaatlichen Kategorien Abstand zu nehmen, wird genau das Gegenteil bewirkt und die nationalstaatliche Denkweise gefestigt. Dies führt jedoch in vielen ehemaligen sozialistischen Ländern dazu, dass  die Konzeption der ‚nationalen Kultur’ nicht selten der Legitimierung von Ausgrenzung dient.

T: Dass die Kultur in Osteuropa bereits im früheren Regime in nationalstaatlichen Kategorien funktionierte, könnte erneut paradox klingen, denn die sowjetischen Regime haben sich auf der rhetorischen Ebene als Internationalisten deklariert. Sie wollten ihr unter staatliche Aufsicht gestelltes kulturelles Leben nicht nur vom Westen abschirmen; auch untereinander verlief der kulturelle Austausch vor allem auf staatlicher Ebene und nicht auf den zwischeninstitutionellen Beziehungen und Kooperationen. Damit wir aber die Dinge nicht allzu vereinfacht darstellen, muss man sagen, dass es ab den 60er Jahren zahlreiche Experimente für zwischeninstitutionelle Kooperationen gab. Dies ging soweit, dass sich selbst im Verlagswesen oder im Vertrieb von Zeitschriften Kontakte entwickelten. Es ist eine andere Frage, dass sich früher oder später herausstellte, dass das, was in dem einem Land publiziert werden konnte, im anderen nicht genehmigt wurde, weshalb diese Kooperationen immer wieder eingefroren sind. Aber die Gründe dafür sind nur zum Teil kulturpolitische.
Dann war da noch der Zerfall der Österreichisch-Ungarischen Monarchie, bzw. der Friedensvertrag nach dem Ersten Weltkrieg. Damals wurden vom sog. historischen Ungarn all die Gebiete an Nachbarländer abgetreten, in denen die ungarisch sprechende Bevölkerung insgesamt 50% oder weniger ausmachte. Dies berührte zwei Drittel des ehemaligen Gebietes des Landes und damit all die Strukturen, die sich im Bereich des Verkehrs, der Industrie, der Landwirtschaft und der Kultur über mehrere Jahrhunderte entwickelt hatten. Im Laufe des Zweiten Weltkriegs bemühte sich die ungarische Regierung an der Seite des Dritten Reiches darum, von diesen Gebieten so viele wie möglich zurückzubekommen. Da Ungarn deshalb als letzter Vasalle Hitlers den Krieg beendete, musste es die gerade eben angegliederten Gebiete erneut abtreten. Dies ging mit Vertreibungen, Zwangsumsiedlungen und Flucht einher, das Land wurde also zur Verantwortung gezogen und musste Rechenschaft ablegen.
Das heißt, dass sich danach viele neuralgische Punkte zwischen den ‚befreundeten sozialistischen Ländern’ entwickelten, die überall verschwiegen, bzw. anders interpretiert wurden. Wenn wir also auch diesen Hintergrund dazuzählen, und ich würde hier den Aspekt hervorheben, wie viele Menschenschicksale auf jeder Seite von dieser sich über mehrere Jahrzehnte hinziehenden und in ihren Folgen bis zum heutigen Tag nicht abgeschlossenen Geschichte auf die eine oder andere Weise schmerzhaft beeinflusst wurden, dann kann man über die Vielzahl der verschiedenen politischen und kulturpolitischen Empfindlichkeiten kaum überrascht sein.

M: Das war wirklich eine paradoxe Situation. Ich untersuche gerade die Studien, die sich mit der Kulturpolitik unter Kádár und Aczél beschäftigen(2)  und stelle sie in Relation mit kulturtheoretischen und kulturpolitischen Forschungen aus Deutschland. Dabei versuche ich herauszufinden, was sich im Hintergrund abspielte. Wenn Du einverstanden bist, würde ich zuerst den engen und den breiten Kulturbegriff definieren und den Prozess beschreiben, der sich in Deutschland nach den 60er Jahren abspielte, weil ich meine, dass dies im Verhältnis zu Ungarn interessant sein könnte.

Der ‚affirmative’, also der enge Kulturbegriff wurde 1937 vom marxistischen Denker und Spiritus Rector der '68er Studentenrevolte, Herbert Marcuse (1898-1979) eingeführt. Danach ist Kultur gleich mit dem ‚Schönen, Wahren und Guten’. Der Soziologe kritisiert in seiner berühmten Studie, dass sich die Kultur von der tatsächlichen weltlichen Wirklichkeit und vom täglichen Überlebenskampf abhebt, wodurch sich auch die kulturellen Tätigkeiten und die Gegenstände, die die Kultur verkörpern, über den Alltag erheben und zu Ausnahmen und Feierstunden werden (MARCUSE 1937:63). Das ist ein idealistischer Standpunkt, der damit einhergeht, dass man sich der Gegenwart ergibt, da die Möglichkeit der Verwirklichung der Ideale in eine irreale, unerreichbare Entfernung rückt. Das bedeutet aber gleichzeitig die Ablehnung der Verantwortung gegenüber dem ‚Unveränderlichen’, sowie auch die Angst vor dem ‚Unbekannten’. Da alles, was ‚schön, wahr und gut’ ist nur von ‚oben’ kommen kann, was gleichzeitig eine paternalistische und elitäre Auffassung ist, wird die die einzelnen Individuen umgebende oder die in ihnen versteckte materielle Wirklichkeit im Wesentlichen ‚hässlich, unwirklich und schlecht’.

Unter ‚affirmativer Kultur’ wird also ein normatives, eindimensionales, allgemein verbindlich gültiges und unbedingt zu bejahendes Wertesystem verstanden, das weit entfernt von den Alltagen der wirklichen und realen Welt steht.

In Westdeutschland wurde der ‚affirmative’ Kulturbegriff als programmatisches Grundprinzip der Konzeption der ‚Kulturpflege’ in den 50er und 60er, also in den Jahrzehnten nach dem Krieg verwirklicht, als das wichtigste Ziel war, die Melancholie und die Trauer (Begriffe, die aus der Psychoanalyse übernommen wurden) über die unmittelbare Vergangenheit langsam zu lockern und das Volk der „Richter und Henker“ mit der Zeit erneut in ein Volk der „Dichter und Denker“ (GLASER 1985:20) zu verwandeln, d.h. also, das Selbstvertrauen der zerschlagenen Nation wieder zu stabilisieren (KLEIN 2003:159ff). Trotz der Tatsache, dass Marcuse bereits in den 30er Jahren seine Kritik des affirmativen Kulturbegriffs formulierte, blieb die Kulturpolitik in Westdeutschland bis in die 60er Jahre im Schatten der Bildungspolitik und sollte mit dem Leitmotiv der aus der deutschen Klassik des 18. Jahrhunderts stammenden Idealen des ‚Schönen, Wahren und Guten’ die Wiederkehr der Barbarei verhindern. Die Begegnung der Konzeption der ‚Kulturpflege’ mit dem affirmativen Kulturbegriff führte dazu, dass die Kultur geschlossen blieb, was wiederum bedeutete, dass sie noch nicht offen für die Vergangenheitsbewältigung (ein ebenfalls aus der Psychoanalyse übernommener Begriff) war, obwohl es dringend notwendig gewesen wäre. Niemand beschäftigte sich also mit der Rolle der unmittelbaren Vergangenheit und der nationalsozialistischen Kultur, ja die affirmative Kulturauffassung half eher, das Gewissen zu beruhigen, da sie zum Verdrängen beitrug. Das bedeutete auch, dass die Kulturpolitik bis in die späten 60er Jahre nichts anderes bedeutete, als die administrative Pflege von kleineren und größeren kulturellen Einrichtungen. Die unterdrückte und unaufgearbeitete Vergangenheit brach jedoch nach dem Wiederaufbau des Landes gegen Mitte der 60er Jahre vehement an die Oberfläche und mündete schließlich in der kulturellen Revolte von 68/ 69. Bereits seit Mitte der 60er Jahre war die Öffnung der Kulturtheorie und Kulturpolitik gegenüber der Vergangenheitsbewältigung und der Begegnung mit der aktuellen gesellschaftlichen Wirklichkeit zu spüren, und in der Geschichte Westdeutschlands begann der ‚affirmative Kulturbegriff’ eine zentrale Rolle zu spielen. Man begann, die Auffassung der Kultur, die sich nur auf die Künste bezog, zu kritisieren, was schließlich zu deren Öffnung führte. Die Rolle der in den Jahren nach ´45 beinahe in Vergessenheit geratenen progressiven Richtungen der Weimarer Republik nahm wieder an Bedeutung zu, und der Kulturbegriff wurde durchpolitisiert. Der dadurch entstandene, breiter aufgefasste ‚anthropologische Kulturbegriff’ umfasst nun die gesamten Lebensäußerungen und Objektiviationen der Gesellschaft, also all ihre Erscheinungsformen, die sich im Verhalten, in gesellschaftlichen Kontakten, in verwandtschaftlichen Beziehungen, in Erfindungen, in Werken, in der Kunst usw. in Erscheinung treten. Eine große Rolle bei der Entstehung des anthropologischen Kulturbegriffs spielte Raymond Williams, der die Kultur bereits 1958 ‚Lebensweise’ nannte (WILLIAMS 1972 [1958]:20). Der Kulturbegriff wurde umgedeutet, und die Erkenntnis gewann an Bedeutung, dass die Kultur etwas Selbstdynamisches sei. Kultur könne nicht nur im ‚Zentrum’, sondern auch an der Peripherie entstehen, und sei ein sich ständig veränderndes etwas. Es hat sich herausgestellt, dass es nutzlos ist, den Ursprung, den Zweck, den Fokus oder den Wert der Kultur außerhalb der Gesellschaft zu suchen, weil wir dadurch die Verantwortung von uns weisen und zulassen, dass sie in den Machtbereich der jeweilig herrschenden Ideologie gelangt, wie dies bereits oft im Laufe der Geschichte passierte. War die Kultur bis dahin ‚statisch’, wurde sie fortan vielmehr durch die ‚ständige Veränderung’, den ‚Fluss’ und die ‚Dynamik’ charakterisiert. Infolge dessen spielte die gesellschaftspolitische Aufgabe der Kultur ab den 70er Jahren eine immer größere Rolle. Bald wurde die Kultur zudem Teil eines gesamtgesellschaftlichen Entwicklungsplans, indem infolge von Willy Brandts oben zitiertem Satz, ‚Mehr Demokratie wagen!’ Politiker und Kulturpolitiker die Reform der Gesellschaft forderten. Diese gesellschaftliche Entwicklung fand ihren operativen Niederschlag ab Anfang der 70er Jahre in der so genannten ‚Neuen Kulturpolitik’, deren reflexive Wirkung eine wichtige Rolle im Demokratisierungsprozess der westdeutschen Gesellschaft spielte. Die Offenheit der Kultur  bildete eine wichtige Basis in der gesellschaftlichen Toleranzbereitschaft.

Was geschah zur gleichen Zeit in Ungarn?

Im Ungarn der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Kulturpolitik zwar im Einklang mit der universalistischen Idee des Realsozialismus prinzipiell im breiten Sinne verstanden und ihr nach dem anthropologischen Kulturbegriff  auch eine gesellschaftliche Funktion  zugemessen, doch das war bei weitem nicht so selbstverständlich. Das Dilemma der Kulturtheoretiker wird in einem Satz von Dénes Zoltai 1970 sehr gut ausgedrückt, demnach „wir keine Kulturtheorie haben, die eine solide Basis für die praktische Tätigkeit der ästhetischen Erziehung und für die Zunahme der künstlerischen Massenbildung bilden würde“ (ZOLTAI 1970: 317). Wie dies von Sándor RÉVÉSZ in seinem Buch Aczél és korunk (Aczél und unser Zeit, 1997) beschrieben wird, kam es auch später zu keiner ideologischen Klärung, und wie auch Péter AGÁRDIs (1993) und Éva STANDEISKYs (z.B. 2003) Analysen beweisen, können wir von keinem den ganzen Realsozialismus einheitlich durchziehenden kulturpolitischen Leitfaden sprechen: In den ersten zwei Jahren nach dem Krieg, schreibt STANDEISKY (2003:125ff), war die Wirkung der Sozialdemokratie erheblich zu spüren, aber im Kampf um die Macht wuchs die Aggressivität der kommunistischen Partei immer mehr, und sie besetzte auch die Kultur immer stärker. In den 70er und 80er Jahren aber, berichtet RÉVÉSZ (1978:187ff.) konnten wir Zeugen einer allmählichen, aber bei weitem nicht alles umfassenden Öffnung und Liberalisierung werden, der wahrscheinlich der sog. Aczél-Mythos(3)  zum großen Teil zu verdanken ist. In den erwähnten Forschungen wird es zwar nicht explizit erwähnt, doch wie zufällig erscheint in ihnen die Tendenz, die bis zur Wende 1989/ 90 zu beobachten ist. Und das ist die affirmative Definition der Kultur, die trotz der liberaleren Öffnung der 70er und 80er Jahre ein paternalistisches, elitäres, eindimensionales, d.h. allgemein verbindliches und unbedingt zu bejahendes Wertesystem bildete, die sich also immer mehr von den Alltagen der realen Welt entfernte und die Funktion des ‚Verdrängens’ übernahm.

T: Ich bin einverstanden, würde aber gerne etwas präzisieren: Die 70er Jahre in Ungarn beginnen gerade nicht mit der Liberalisierung, sondern mit einer ernsthaften kulturellen Säuberung, die eigentlich die Ergebnisse von ´68 zurückschneiden wollte. Zwar spreche ich jetzt explizit über Ungarn, aber nach 1968 ist so etwas nicht nur auf dieser Seite des Eisernen Vorhangs passiert, sondern auch in Österreich (siehe Wiener Aktionismus) und auch woanders. Ich halte es jetzt aber deshalb wichtig, zu erwähnen, weil wir uns zur Zeit mit der Geschichte des sowjetischen Regimes befassen und dabei geneigt sind zu vergessen, dass weder der Westen noch die USA in jeder Hinsicht und in jeder Beziehung als die Champions der Demokratie betrachtet werden können. Das heißt, statt einer Gegenüberstellung der demokratischen kontra diktatorischen Regime, was zeitweise ziemlich vereinfacht oder sogar auch scheinheilig wird, wäre es wahrscheinlich viel nuancierter, an unsere Geschichte so heranzugehen, dass wir sie in der Relation von Zentrum und Peripherie untersuchen. Dadurch könnten wir unsere Sichtweisen auch in Richtung Asien und Südamerika erweitern und das 20ste Jahrhundert vielleicht umfassender betrachten.

In Ungarn wurden nach ´68 - wozu der berüchtigte Geheimdienst III/III wesentlich beitrug -
Künstler, Sozialwissenschaftler und viele aus der Intelligenz in die äußere oder innere Emigration gezwungen: Angefangen von den Schülern Georg Lukács’ über das später unter dem Namen Squat Theatre bekannt gewordene Schauspielerensemble beinahe alle, die Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre zur geistigen Progression Ungarns zählten (selbst der Regisseur Miklós Jancsó arbeitete um diese Zeit in Italien und produzierte die emblematischsten ungarischen Filme der 60er Jahre). Es wurde jedoch versucht, diesen harten Kurs an der Oberfläche dadurch zu übertünchen, dass in der Massenkultur Vieles erschien, was bis dahin nicht möglich war. Das heißt, dass sich in Ungarn ab Anfang der 70er Jahre - wenn auch nicht ganz so gradlinig, doch immerhin – eine Konsumgesellschaft zu entwickeln begann, auch wenn sie im Verhältnis zu den westlichen Konsumgesellschaften eine periphere und zum großen Teil auf dem Marktangebot der RWG(4)  beruhende Konsumkultur war. Doch ab der Wende der 60er zu den 70er Jahren erschien auch hierzulande die Masseproduktion, die jedem ermöglichte, einen Trabant zu haben, und in der jeder Familie ein Fernseher, ein Kassettenrecorder, ein Staubsauger, eine Wasch- und eine Schleudermaschine usw. zustand. Da es hier damals einem Skandal gleichgekommen wäre, die Gesellschaft Konsumgesellschaft zu nennen, wird sie bis zum heutigen Tag nicht so bezeichnet, obwohl die sprachlichen Erfindungen der zeitgenössischen Kabaretts wie ‚Kühlschranksozialismus’ zweifellos an so etwas hindeuten.

Wenn wir also die Unterschiede zwischen den 60er und 70er Jahren verstehen möchten, was deshalb so wichtig ist, weil wir dazu neigen, diese im Nachhinein zu verwischen, dann könnte man folgende typische Beispiele nennen: Im Ungarn der 60er Jahre versuchte der Staat typisch westliche Einwirkungen zu verbieten – in extremen Fällen zu kriminalisieren -, z.B. wenn die Jungen ihre Haare wachsen ließen und die Mädchen Miniröcke zu tragen begannen; auch die Rockmusik und damit im Zusammenhang der Sprachgebrauch der Jugendlichen galten auch als solch schädliche Einflüsse. Diese waren im Westen Zeichen der Demokratisierung, der Emanzipation, bzw. der sexuellen Revolution, doch die hiesige staatliche Führung der 60er Jahre versuchte sie in ihrer ersten Reaktion zu verbieten. Diese Verbote wurden dann durch die Verbreitung der Konsumkultur weggefegt, denn, wenn wir im Fernsehen Abend für Abend Filme ausstrahlen wollten – und das war die Zeit, in der man so viele Fernsehgeräte hatte, dass es nicht reichte, das Programmangebot bei wöchentlich zwei bis drei Fernsehabenden zu belassen -, dann musste man auch ausländische, bzw. westliche Filme zulassen und in das Programmangebot aufnehmen. Natürlich wurden nicht alle Filme ins Land gelassen, doch genug, um ab da lange Haare, kurze Röcke oder überhaupt Sex auf dem Bildschirm nie mehr tabuisieren zu können. Während all dies ab den 70er Jahren tatsächlich keine Tabus mehr waren, wurden die kulturellen Erscheinungen, die Fragen im Zusammenhang mit der tatsächlichen Demokratisierung der Gesellschaft aufwarfen, binnen weniger Jahre systematisch aus der Öffentlichkeit, aber auch aus dem engen Kreis der Fachleute verbannt. Es ist eine andere Tatsache, dass Erinnerungen nicht zensiert werden können, weshalb nach einer kurzen Latenz vieles zum neuen Leben erwachte, was dann in den 80er Jahren noch viel weniger in den ‚underground’ gedrängt werden konnte.

M: Parallel zu dem, was Du hier erzählst, und das ist in den vorhin erwähnten Forschungen bereits explizit enthalten, war die erneute und langsame Verbreitung einer in die 20er Jahre zurückgehenden Denkweise ebenfalls zu beobachten. Sie war auf den als ‚völkisch’ oder ‚populistisch’ bestimmten Teil einer in Ungarn als ‚Streit zwischen den Völkischen und Urbanen’ bezeichneten und stark umstrittenen Erscheinung charakteristisch.

T: Soweit ich mich erinnern kann, traf man in den Jahrzehnten vor der Wende selten auf rassistische, chauvinistische und homophobe Bemerkungen, und wenn, dann auch nur in der privaten Sphäre. Als dann in den Jahren um die Wende herum diese Erscheinungen wieder auftauchten, dachte ich, es gäbe ältere Zeitgenossen von uns, die diese Attitüde irgendwo aus der Vergangenheit mitgebracht hätten, und sie jetzt, in den ersten Momenten der Redefreiheit natürlich ausprobieren würden. Ich hätte nicht gedacht, dass die jüngere Generation so etwas abnehmen würde. Aber Du hast recht, genau so ist es danach gekommen. Hier stellt sich die Frage, ob wir nach der Wende etwas falsch gemacht haben oder ist dieses Problem ein viel älteres?

M: Es ist interessant, dass dir gleich der Rassismus als Assoziation in den Sinn kommt, obwohl bis jetzt davon gar nicht die Rede war. Aber Du hast deshalb recht, weil die völkische Bewegung und der Antisemitismus zwei Seiten ein und derselben Medaille sind. Lass mich bitte ausführen, wie ich das meine. Bleiben wir jedoch noch einen Moment bei der stalinistischen Diktatur. Nachdem ab 1951 die kommunistische Parteiführung aus manipulativen Gründen die dem ‚nationalen Gedanken’ seit Jahrzehnten verbundene und angesehene Intelligenz in ihr totalitäres System einbezog und diese fortan deren Macht legitimierte, wurde aus der früheren ’nicht-nationalen’ – zum Teil auch durch sie - eine Kulturpolitik mit nationaler Ausrichtung. Diese Tendenz wurde nach Stalins Tod – bis auf die Jahre um 1956 herum – auch von der sowjetischen Führung unterstützt, und mit der Zeit wurde daraus ein Sozialismus mit ’nationalem Antlitz’ (STANDEISKY 2003:127, vgl. noch STANDEISKY 2001, 2002 und 2004). Dieser ‚Sozialismus mit nationalem Antlitz’ wurde zum großen Teil von den so genannten ‚völkischen Schriftstellern’ unterstützt. „Die traditionelle kommunistische Politik /.../ hatte über Jahrzehnte eine viel stärkere Affinität zu den Völkischen, als zu den Liberalen, Sozialdemokraten oder zu den radikalen Vertretern der Selbstverwaltung, den Reform-Kommunisten“ (AGÁRDI: 1993:741).

An dieser Stelle ist es aber nötig, einen kleinen Umweg zu machen und zu untersuchen, wer eigentlich die ‚völkischen’ Denker sind.

Wie aus den Forschungen von RADNÓTI (1992; 2000), TAMÁS (1992), HANÁK (1993), HROCH (2002) und MARGÓCSY (2004) deutlich hervorgeht, steht die Gedankenwelt der ungarischen ’völkischen’ Bewegung mit der gleichen Ideenwelt und Kulturtradition in enger Beziehung, deren Wurzeln bis Herder und zur deutschen Romantik zurückreichen, und aus der sich auch die völkische Bewegung im wilhelminischen Deutschland vor hundert Jahren nährte (PUSCHNER 2001). „In dieser Auffassung versteht man unter dem Begriff ‚Volk’ nicht die Schichten, die sich auf der gesellschaftlichen Standesleiter unterhalb des Adels und des Bürgertums befanden, sondern eine auf eine archaisch anmutende Gemeinschaft zurückreichende ethnische Identität, mit Hilfe derer es sich später, um die Jahrhundertwende, als Rasse verstanden werden konnte. Zusammen mit dem Sozialdarwinismus, der konservativen Sozialreform und dem aggressiven Nationalismus war dieser völkische Nationsgedanke und diese völkische Organisationspraxis die Brutstätte des Rassismus, dessen diskriminative Rechtspraxis und Antisemitismus im zweiten Drittel unseres Jahrhunderts in Deutschland, in Österreich, in Ungarn, in Rumänien und eigentlich in der ganzen Region eine derart brutale kulturelle Zerstörung und den Holocaust verursachte“ (HANÁK 1993: 227). Wie auch HROCH (2002:17) beweist, ist der ungarische Ausdruck ‚népi’ (für völkisch) etymologisch nicht mit dem Wort ‚narod’, sondern mit dem Wort ‚gens’ verwandt (siehe ‚genetisch’), und meint, dass es sowohl im Falle Ungarns als auch im Falle Deutschlands um - durch eine gegebene historische Situation stimulierte - parallele ‚patriotische Bewegungen’ geht (HROCH 2002:20). Typisch für beide Bewegungen war der Ethnonationalismus, der die Identität des Landes als ethnisch homogenes Deutschtum bzw. Magyarentum, das heisst, die Zugehörigkeit zur Nation aufgrund des Blutes und der Abstammung, bestimmte, was mit einer aus dem Anfang des 19. Jahrhunderts stammenden Ablehnung des Westens, des Liberalismus und des Kapitalismus einherging. Doch die Bestimmung einer Nation als ethnische Abstammungsgemeinschaft führt immer zu Exklusion, also zur Ausgrenzung, was sich in beiden Bewegungen als Antisemitismus niederschlug (PUSCHNER 2001, BURRIN 2004, SZABÓ 2003:101ff, UNGVÁRY 2001, FISCHER 1988). Typisch für beide Bewegungen war die paternalistische, autoritäre Kulturauffassung, die sich auch auf die politische Kultur, auf soziale Werte und auf die Moral bezog. All diese Kategorien verstärkten das ethnische Identitätsbewusstsein. Die autoritäre Kultur manifestierte sich auch in der Heroisierung der Macht, wie z.B. auch in der Kultivierung des Militärs und der militärischen Tugenden (vgl. KLIMÓ 2003). Der Unterschied zwischen beiden Bewegungen bestand darin, dass die ungarische – im Gegensatz zur deutschen – nach den 20er Jahren eine ausgeprägte soziale Empathie im Hinblick auf das Elend der bäuerlichen Schicht zeigte (z.B. HANÁK 1993: 225, UNGVÁRY 2001). Vergleichen wir die gemeinsamen Ideen und Ziele miteinander, so wäre nach dem Muster der deutschen völkischen Bewegung auch im Falle der ungarischen statt des harmlosen Begriffs von ‚volkstümlich’ die viel negativere ‚völkische’ Bezeichnung richtiger.

Nach diesem kleinen Umweg komme ich zum Realsozialismus zurück, mit dessen universalistischen Idealen also, wie die Forschungen von AGÁRDI (1993), RÉVÉSZ (1997) und STANDEISKY (2003) zeigen, das völkische Denken nicht nur nicht zurückgedrängt werden konnte, vielmehr kehrte sie nach den wenigen ‚nicht-nationalen’ Jahren der Nachkriegsperiode zurück, und zwar mit sowjetischer Unterstützung (STANDEISKY 2001 2002, 2004). Ja, der Kulturnationalismus, dessen Grundlage die Betonung der ’nationalen Kultur’ bildete, und der sich ab den 60er, 70er Jahren allmählich zum Widerstand gegen die realsozialistische Doktrin entwickelte, bekam, sehr zum Leidwesen der tatsächlich zum Schweigen gebrachten und in den Untergrund gedrängten demokratischen Opposition (CSIZMADIA 195; RÉVÉSZ 1997:230ff.) westliche, vor allem westdeutsche Unterstützung in der Zeit von Willy Brandts ’Ostpolitik’ (EÖRSI 1990: 134, ENZENSBERGER 1989: 123, 133).

Die ‚nationale Kultur’ ist aber ein ‚affirmativer Kulturbegriff’, weil er die geistige Kultur aus der Ganzheit der Gesellschaft heraustrennt, dadurch die Gemeinschaft zu einem ‚falschen Kollektiv’ erhebt, d.h. er verleiht ihr im falschen Sinn allgemeine Gültigkeit, wodurch er sie in einen Gegensatz zur realen Welt stellt (MARCUSE 1968:61). Die ‚nationale Kultur’ bedeutet deshalb eine falsche geistige Welt, weil sie eine ‚einheitliche, homogene nationale Gemeinschaft’ voraussetzt, die eine Fiktion, eine imaginierte, also kulturelle Konstruktion, eine ‚imagined community’ ist (ANDERSON [1983] 1996), da in Ermangelung einer religiösen bzw. etnischen Einheit nur historische Mythen und ein von allen Beteiligten der Gemeinschaft akzeptiertes Geschichtsbild und eine von allen akzeptierte Symbolwelt als Kohäsionskraft der Gemeinschaft dienen können. Die nationale Gemeinschaft ist auch deshalb eine imaginierte Gemeinschaft, „weil die Mitglieder selbst der kleinsten Nation die meisten anderen niemals kennen, ihnen begegnen oder auch nur von ihnen hören werden, aber im Kopf eines jeden die Vorstellung ihrer Gemeinschaft existiert“ (ANDERSON 1996:15).

Zusammenfassend bedeutet das, und darin steckt wahrscheinlich das Dilemma, das im oben zitierten Satz ZOLTAIs (1970:317) deutlich wird, folgendes: Es gab zwar eine Kulturtheorie, die im Sinne des ‚anthropologischen Kulturbegriffs’ die Kulturpolitik und die Kulturpraxis eigentlich in eine progressive Richtung lenken wollte, doch dies sollte aber im Namen einer unterdrückerischen Macht verwirklicht werden, deren Ziel nicht die Demokratisierung der Gesellschaft war. Darin steckt ein antagonistischer Widerspruch. Als Vergleich: In West-Deutschland entwickelte sich eine alles umfassende Kritik über den engen, ‚affirmativen Kulturbegriff’, der auch dadurch an Glaubwürdigkeit gewann, dass sie mit einer von Unten kommenden kulturrevolutionären Bewegung zusammenfiel. Auf lange Sicht bot also die durch den ‚anthropologischen Kulturbegriff’ begründete Kulturpraxis eine gute Möglichkeit der gesellschaftlichen Integration, das heißt also, dass zwar Theorie und Praxis nicht überall zusammenfielen, doch sich mit der Zeit einander auffällig annäherten. In Ungarn dagegen konnte der ‚anthropologische Kulturbegriff’ nicht im Bewusstsein der Gesellschaft eingebettet werden, die Praxis blieb also von der Theorie getrennt, weil im Gegensatz zur Kulturtheorie ein Großteil der für die Kulturpolitik relevanten gesellschaftlichen Elite (Kulturpolitiker und die völkische Intelligenz) die gesellschaftliche Integration eher von einem im ‚affirmativen’ Sinne aufgefassten, ethnonationalistischen, also völkischen Kulturnationalismus erhofften. Dazu bekamen sie nicht nur von ihren eigenen Unterdrückern eine immer offenere Unterstützung, dieser Prozess wurde auch vom Westen unterstützt und legitimiert. So bedeutete für viele die kulturnationalistische Form des nationalen Widerstandes die progressive, von unten kommende ‚Revolution’ und die Möglichkeit der gesellschaftlichen Integration.

Während also in West-Deutschland zwischen 1945 und 1989 der Kulturbegriff und mit ihm zusammen auch die Gesellschaft immer offener wurden, konnte dies in Ungarn nicht verwirklicht werden, selbst wenn die Aczélsche Kulturpolitik manchmal Bereitschaft für eine Öffnung und Liberalisierung zeigte. In Ungarn blieb die Kultur im Endeffekt geschlossen, statisch und affirmativ. Dem widerspricht auch die von dir erwähnte Konsumkultur nicht, da auch diese affirmativ ist, weil sie Ziele außerhalb der Gesellschaft verfolgte.

T: Wahrscheinlich ist das so, besonders, was die Ideengeschichte der politischen Elite und des ihr zuarbeitenden Mainstreams anbelangt, nicht zu sprechen vom Kulturidiotismus. Es wäre aber dennoch nützlich, den Ereignissen der 80er und 90er Jahre im soziologischen, sozialpsychologischen und kultursoziologischen Kontext nachzugehen. Umso mehr, als nach meinem Gefühl in den 80er Jahren das Kulturleben nicht mehr richtig von der Mainstream-Kultur dominiert wurde, ja diese wurde sogar gegen Mitte der 80er Jahre entschieden von der zweiten Öffentlichkeit verdrängt. Für mich ist eine der spannendsten Fragen gerade, wieso dieser Sturm und Drang der 80er Jahre ab Anfang der 90er Jahre verbluten konnte.

M: Es ist die Frage, ob es tatsächlich einen echten Sturm und Drang gab.

T: Miklós Gáspár Tamás schrieb vor einigen Jahren, dass die Wende nach seiner Meinung tatsächlich wenige Anhänger gehabt hatte. Ich könnte jetzt nicht zitieren, welche Zahl er nannte, aber ich glaube, 1988 und 89 war er noch von mehr ausgegangen. Das heißt, es gibt wahrscheinlich ein Abbröckeln in großem Ausmaß, eine Enttäuschung im Zusammenhang mit der Wende. Das ist deshalb interessant, weil ich mich an eine damalige Untersuchung erinnere, die der Frage nachging, welche Erwartungen die Einwohner der verschiedenen Länder im Zusammenhang mit der Wende hatten. Damals hatten wir, Ungarn, uns als die pessimistischsten erwiesen.

M: Ich glaube dennoch nicht, dass es einen den Großteil der Gesellschaft umfassenden Reform-Willen gab. Die Tradition der affirmativen Kultur war viel tiefer, und deren Mechanismen blieben viel lebendiger. Ich meine, dass es auch heute so ist. So wie ich sehe, durchzog auch den Realsozialismus die Tendenz, dass die Kultur eigentlich weit entfernt von den Alltagen der wirklichen, realen Welt ist und die Funktion des ‚Verdrängens’ übernommen hat. Das zeigt sich in der Verengung des Kulturbegriffs auf die Kunst, in der Betonung der ‚Nationalkultur’ und in der Tolerierung der Konsumkultur gleichermaßen.

Die Frage ist, ob die Wirkung der zweiten Öffentlichkeit, auf die Du hinweist, tatsächlich so groß gewesen sein konnte. Denn es ist heute fast als Forschungsergebnis zu betrachten, dass in den ehemaligen sozialistischen Ländern, so auch in Ungarn, das Ende des Realsozialismus eine ethnonationalistische Wende bedeutete (CLAUSSEN 2000:18). Der ethnonationalistische Wille der Gesellschaft musste also viel größer sein. Der heutige Ethnonationalismus ist nicht einfach die Fortsetzung seines Vorgängers, die der universalen, progressiven nationalen Befreiungsbewegungen aus dem 19ten Jahrhundert, schreibt WERZ (2000:6). Hinter sozialen und politischen Konflikten sind heute in Wahrheit nationalistisch verkleidete ethnische Kategorien versteckt. Jahrhunderte langes Leid und Opfererfahrungen sich als ethnische Gemeinschaften definierender Gruppen gelten als Grundlage für deren politisches Handeln, wobei die Dynamik dieser Erscheinung in den ehemaligen sozialistischen Ländern am meisten zunimmt. Diese Art von Konstellation kann mit herkömmlicher Ideologiekritik nicht erklärt werden. Die Auflösung traditioneller sozialer Bindungen hinterließ individuelle, vereinzelte Existenzen, und nachdem auch die religiösen Orientierungsmuster ihre Gültigkeit verloren haben, leben sie in diesseitiger, ethno-religiöser Form weiter, in der der kulturelle und sprachliche Zusammenhalt als Insignien der Differenz in den Vordergrund gestellt werden. Die ethnonationalistische Ideologie hat eine totalistische Logik, weil die Grundlage ihrer Existenz dadurch bestimmt wird, dass sie als Basis für die individuelle Identität die Gruppenidentität betrachtet. Da sie zu einer Homogenisierung der eigenen Gruppe drängt, führt dies auf der anderen Seite automatisch zur Ausgrenzung von irgendwelchen ‚Fremden’. Der Ethnonationalismus ist also vorurteilsgesättigt, gleichzeitig aber alltagstauglich, weil er in der erlebten Ungleichzeitigkeit Orientierungsschablonen bietet, in denen religiöse und Abstammungskategorien plötzlich neu zum Leben erwachen. Deshalb ist er auch nicht mit dem Nationalismus zu verwechseln, weil die Grundlage der neuen Ideologien nicht die Nation als politische Kategorie ist, sondern ein Gefühl kultureller Zugehörigkeit, das sich in imaginierten und erfundenen Traditionen und runderneuerten Religionen offenbart. Als moderne Ideologie ist der Ethnonationalismus als Alltagsreligion zu bestimmen, in der sich Säkularisation, Nationenbildung und der Realsozialismus miteinander verbinden. Er muss vom Nationalismus unterschieden werden, weil sich Ethnonationalismus auf kein konkretes historisches Bild mehr bezieht, sondern seine Legitimation „willkürlich und opportunistisch /.../ aus der Geschichte zusammenraubt“ (WERZ 2000:8). Da die ethnozentrische Ideologie immer zur Homogenisierung der eigenen Gruppe und zur Ausgrenzung einer vermeintlichen ‚fremden’ Gruppe führt, sind der Ethnozentrismus und der moderne Antisemitismus vielfach die zwei Seiten der gleichen Medaille. Deshalb hängt er auch mit der völkischen Bewegung zusammen, die ich vorhin erwähnte.

Um auf deine Frage zurückzukommen, denke ich, dass es die ethnonationalistische Denkweise ist, die den Demokratisierungsprozess der Gesellschaft lähmt. Sie ist in Ungarn sowohl in der politischen Rechten als auch in der Linken zu finden, wobei er bei letzteren in einer viel schwächeren Form erscheint. Nach meiner Meinung ist also die Kultur nach der Wende im Endeffekt vom affirmativen Regen in der affirmativen Traufe gelandet. Einen Ausweg könnte die Lockerung der Narrative der ‚Nationalkultur’ (ein heiliges Tabu in Ungarn) und mit den Worten des Soziologen von Ulrich BECK (2004) der ‚kosmopolitische Blick’ bedeuten. Denn ‚patriotische’, ethnonationalistische Kulturkonzeptionen führen immer zu Ausgrenzungen, ja sie automatisieren sie und produzieren sie immer wieder aufs Neue.

T: Nach dem, was Du hier erzählt hast, haben wir es hier mit einem so gewaltigen Problem zu tun, dass selbst eine Regierung mit einer noch so konsequenten und zielbewussten Kulturpolitik es nicht binnen einiger Jahre lösen könnte. Davon nicht zu sprechen, was auch Du gesagt hast, dass die Erfahrungen der vergangenen anderthalb Jahrzehnte nicht dafür sprechen, dass auch nur eine der beiden Versionen wahrscheinlich sei. Wenn überhaupt etwas zur Auflösung der Narrative der Nationalkultur und zur Verbreitung eines kosmopolitischen Blicks in den vor uns liegenden Jahren in entscheidendem Maße beitragen kann, dann könnte es noch am ehesten die wachsende Zahl der Computer- und Internetnutzer, die konsequentere Ausweitung des digitalen Netzes bzw. die der digitalen Kultur und die Vertiefung der europäischen Integration sein. Ich sage nicht, dass ich mir auch in diesem Zusammenhang keine negativen Szenarien vorstellen kann, aber was können wir uns sonst erhoffen?

M: Du hast den Kern des Buches von BECK (2004) erfasst! Er nennt das, was Du hier beschreibst, also die Verbreitung der digitalen Kultur und die wachsende Zahl der Computer- und Internetnutzer Globalismus. Der Globalismus ist ein eindimensionaler, wirtschaftlicher Prozess, der nach den Gesetzen des Marktes funktioniert und ein neoliberales Wirtschaftswachstum forciert (18). Die technische Entwicklung bietet jedoch alleine keine Garantie dafür, dass sie gleichzeitig auch demokratisierend wirken würde. Die Globalisierung und die Globalisierer werden von den Einheimischen als ‚Einmarsch’ oder als ‚Belagerer’ erlebt, gegen die sie Schutzmechanismen entwickeln. Es entwickeln sich, mit BECKs Worten, „introvertierte Nationalismen“ (11), d.h. ethnizistische Binnennationalismen, die jedoch gar nicht ungefährlich sind, ja sogar großes Gewaltpotential besitzen. Gerade deshalb, meint BECK, weil der Globalismus keine tiefgreifende, mentale, sondern im Endeffekt eine oberflächliche Veränderung bedeutet, vollzieht sich zwar nur auf der Oberfläche, aber immerhin eine Art Kosmopolitisierung. Diese nennt er „banalen Kosmopolitismus“ (33). Gleichzeitig herrscht überall ohne Ausnahme noch immer ein „methodologischer Nationalismus“, was bedeutet, dass man weder auf der wissenschaftlichen, noch auf der strukturellen Ebene von der nationalen Denkweise Abstand nehmen kann. Voraussetzung für eine tiefgreifende mentale Veränderung, d.h. für den „kosmopolitischen Blick“ wäre ein „methodologischer Kosmopolitismus“, weil er die „Denationalisierung“ der Wissenschaften bedeuten und so die zubetonierte nationale Denkweise aufbrechen könnte. Diese wird aber durch den „methodologischen Nationalismus“ permanent neu produziert. Der kosmopolitische Blick ist ein historisch wacher (reagiert also empfindlich auf Manipulationen), reflexiver und dialogischer Blick für Ambivalenzen verschwimmender Unterscheidungen und kultureller Widersprüche.

Deshalb haben wir es tatsächlich mit einem gewaltigen und langfristig anzugehenden Problem zu tun. Es ist nicht innerhalb einer Legislaturperiode zu lösen, man muss aber anfangen, sich mit ihm zu beschäftigen, denn auf der anderen Seite wächst auch die Bereitschaft für Gewalt. Die Gewaltbereitschaft nährt sich aus der Auffassung, die die Globalisierung wie den Untergang der Menschheit auffasst und sich in der Rolle des Opfers sieht. Mal in der der USA, mal in der des Westens, mal des Kapitalismus oder des Neoliberalismus usw. Es entsteht ein paradoxer Eindruck: Irgendwie erleiden alle scheinbar ein Minderheitenschicksal, selbst Mehrheiten fühlen sich als Heimatvertrieben und als Fremde im eigenen Land, da sie das Gefühl haben, es mit übermächtigen Gegnern zu tun zu haben. In Bezug auf den Süden und den Osten ist dieser Feind der Westen, aus der Sicht von Paris Amerika usw. Es entstehen Verschwörungstheorien. „Die Praxis dieser Verschwörungstheorie aber ist der Terrorismus“ (BECK 2004:34). Ich sehe nicht, dass man z.B. in Ungarn diese Verschwörungstheorien wirklich ernst nehmen würde. Entweder werden sie bagatellisiert oder unter den Teppich gekehrt.

T: In Ungarn – und ich nehme an, auch in den anderen postsowjetischen Ländern – ist die globalisierungskritische Denkweise unbedeutend, sie ist eine beinahe marginalisierte Bewegung neben den Verschwörungstheorien der Globalisierungsgegner. Bei uns dürfte das breite Publikum die Namen von Chomsky und Monbiot nur aus der nationalkonservativen Presse kennen, wobei man nicht ahnt, dass diese Autoren die Alternative zum Kapitalismus in der direkten Demokratie und im Sozialismus sehen. Das dürfte deshalb so gekommen sein, weil in den Sowjetregimen keine linke Literatur erscheinen konnte, die diese Regime staatskapitalistische Diktaturen nannte, und natürlich gab es auch nach der Wende kein ernsthaftes Interesse für diese linken Denker.
So konnte sich Dank der Verbreitung der globalisierungskritischen Denkweise – die de facto mit Hilfe des Internets erfolgte – erst in den letzten Jahren eine Situation entwickeln, in der vielleicht auch den hiesigen Redakteuren, Journalisten und Politikern die unangenehme Frage gestellt wird, mit welcher Begründung sie sich linksorientiert nennen. Denn, wenn Du sie jetzt fragst, ist es nicht sicher, dass sie dir antworten können. Einen Sozialismus wollten sie sicher nicht zurückhaben, denn ihn verbinden sie mit den vergangenen Jahrzehnten, und der Wunschtraum einer sozialen Marktwirtschaft wurde vor 16 Jahren in der Verfassung der Ungarischen Republik niedergelegt.

Die Veränderung kommt immer aus einer Richtung, aus der wir nicht damit rechnen. Dafür kann z.B. das Internet ein Beispiel sein, und im Zusammenhang mit ihm die Tatsache, dass immer mehr Jugendliche Englisch lernen. Ab jetzt kann man also weder die Schriften von Chomsky oder Tony Negri, noch die von Naomi Klein verstecken. Diese Werke werden nie von großen Massen gelesen, doch sie sind wahrscheinlich dazu geeignet, dass die junge Intelligenz auf politischem Gebiet nicht so leicht manipuliert werden kann. Die positive Folge der EU Integration der postsowjetischen Länder könnte sein, dass auch die ostmitteleuropäischen Jugendlichen losziehen können um zu studieren, sich in der Welt umzuschauen und den Kontinent in der Art per Anhalter zu bereisen, wie dies für die westlichen Jugendlichen seit den 60er Jahren natürlich scheint. Es ist die Frage, ob sich die EU-Politiker überhaupt für solche kleinen, aber für die Integration der postsowjetischen Länder nicht zu vernachlässigenden, wenn man so will, kulturellen Fragen interessieren. Ist es wichtig für die EU-Politiker, wie sich das geistige und politische Leben der postsowjetischen Länder in den nächsten Jahren entwickelt?

M: Deine Frage würde ich in zwei Bereiche teilen. Nach meiner Erfahrung gibt es in Ungarn auch eine globalisierungskritische Denkweise, doch sie kommt eher von den Nationalkonservativen oder von rechts Außen. Ihre beste Vertreterin, Erzsébet Szalai, die eine deklariert linke Soziologin ist, bedauert seit Jahren, dass die ungarische politische Linke die Globalisierungskritik den Rechtsradikalen überlassen hat.

T: Ich habe nicht ohne Grund unterschieden zwischen einer globalisierungskritischen Denkweise, die überall auf der Welt – so auch in Ungarn – antirassistisch, antikapitalistisch und links ist und zwischen einer globalisierungsfeindlichen Denkweise, die nationalistisch, und rassistisch ist und tatsächlich versteckt oder weniger versteckt ein geistiges Produkt der Rechtsradikalen ist. Wenn Erzsébet Szalai sagt, dass die ungarische politische Linke die Globalisierungskritik den Rechtsradikalen überlassen hat, dann spricht sie über die parlamentarische Linke (über die Sozialisten) und nicht über die außerparlamentarische globalisierungskritische Bewegung, die man alles nennen kann – grün, links, alternativ, einen dritten Weg oder anarchistisch – nur nicht rechtsorientiert. Die Rechtsradikalen üben keine Globalisierungskritik, sie berufen sich höchstens auf globalisierungskritische Denker. Sie greifen deren Feststellungen und Argumente auf, benutzen diese aber in ihren Schriften bis zur Verdummung vereinfacht oder aus dem Zusammenhang gerissen.
Demgegenüber negiert die parlamentarische Linke – die, wie Du auch gesagt hast, manchmal rechts von den westlichen Konservativen steht, aber selbst in ihren radikalsten Momenten nicht links von Tony Blair zu platzieren wäre – das, was sich in den vergangenen 40-50 Jahren im linken Gedankengut entwickelte, in einem solchen Maße, als ob Noam Chomsky, Susan George, Michael Hardt und Antonio Negri, Naomi Klein, George Monbiot, oder Erzsébet Szalai nie auch nur eine Zeile publiziert hätten. Von Rudi Dutschke, Abbie Hoffman, Guy Debord will ich erst gar nicht sprechen. Porto Alegre, Weltsozialforum, direkte Demokratie, demokratischer Sozialismus; all dies ist für die parlamentarische Linke nicht existent. Die ungarische sozialliberale Presse ist widersprüchlich, denn während die liberalen Journalisten konsequent – und ich glaube bewusst – die Globalisierungskritik und Globalisierungfeindlichkeit miteinander vermischen, gibt es in der linksliberalen Presse solche Äußerungen, die eindeutig belegen, dass sich die Journalisten mit den Problemen des Neoliberalismus auskennen, dennoch fühlen sie sich nicht in der Lage, linke Parlamentarier mit diesen Fragen zu konfrontieren.

M: In der nationalkonservativen Kritik kommen auch gute Argumente vor, doch ihre größte Gefahr ist, dass das letzte Element der Kritik der rechtradikalen Denkweise entsprechend in der Verschwörungstheorie zusammenläuft. Sicherlich wissen viele im Westen nicht, dass eine andere prominente Vertreterin der Globalisierungskritik und ab und zu Gast auf Konferenzen in Deutschland, Dr. Magdolna Csath 2002 in den Farben der rechtsradikalen Partei MIÉP bei den Kommunalwahlen kandidierte.

T: Den Namen Dr. Magdolna Csath traf ich in der globalisierungskritischen Presse noch nie, und ich wüsste nicht, aus welchem Grund wir sie als Autorin der Globalisierungskritik nennen sollten.

M: Im Zusammenhang mit Dr. Magdolna Csath und der Verschwörungstheorie reicht es, wenn Du das öffentlich-rechtliche Kossuth Rádió jeden Sonntag früh einschaltest. Damit will ich nicht behaupten, dass Dr. Magdolna Csath Verschwörungstheorien produziert, doch das Forum, in dem sie regelmäßig erscheint und das sie mit ihrer Person legitimiert, das produziert sehr wohl welche.

T: Ja, wenn man im Internet den Namen Dr. Csath eingibt, ist es eindeutig, dass sie in rechtsextremen Organen publiziert. Leider war die Leitung des öffentlich-rechtlichen Radios in den letzten Jahren rechtslastig, und es wurde kein Hehl daraus gemacht, dass es, besonders der Sender Kossuth, wie ein Partei eigenes Radio betrieben wurde. Das kommt einem Konkurs des hiesigen Mediengesetzes gleich, weil diese offensichtlich absurde Situation bereits seit der zweiten parlamentarischen Legislaturperiode unverändert andauert. Wenn Du dagegen den Namen von Erzsébet Szalai in die Suchmaschine eingibst, dann findest Du nicht nur sozialliberale Mainstream-Organe, sondern auch globalisierungskritische Seiten. Auf den Namen von Dr. Csath hin – ich habe nachgeschaut - erscheint bei Indymedia kein einziger Treffer. Das bedeutet nicht nur, dass sie nicht in globalisierungskritischen Foren publiziert, sondern auch, dass man sich nicht auf sie bezieht. Das sind also zwei voneinander sehr unterschiedliche Betrachtungsweisen, obwohl die Neoliberalen die Unterschiede gerne verwischen und den ungebildeten Leser damit schrecken, dass dies alles radikale Ansichten seien.

M: Die andere Frage bezieht sich auf die Kontakte und auf den Erfahrungsaustausch. Dieses Gebiet ist in den letzten Jahren kein eingleisiger Prozess geblieben, d.h. es studieren nicht nur immer mehr Jugendliche aus den postkommunistischen Ländern in Westeuropa, sondern auch ein umgekehrter Prozess in Richtung ehemalige sozialistische Länder ist zu beobachten. Immer mehr Jugendliche aus dem Westen möchten dort studieren. Offensichtlich wächst also auch die Zahl der Programme und Ausschreibungen, die z.B. dem Austausch der Jugendlichen dienen. Diese beruhen jedoch in kulturpolitischer Hinsicht im Großen und Ganzen auf Zufälligkeiten und ohne Strukturen, und auf der Entscheidungsebene ist eine immense Uninformiertheit zu beobachten. Wenn Du mir erlaubst, würde ich gerne einen Satz von Péter Nádas zitieren, der im Rheinischen Merkur am 28sten April 2005 erschien. Auf die Frage, ob sich die Westeuropäer überhaupt ausreichend für die Belange der Mittelost- und Osteuropäer interessieren und ob sie sie verstehen, antwortete Nádas folgendesmaßen: „Nein, sie sind uninteressiert und dementsprechend uninformiert, auf eine Weise, dass man nur staunen und lachen kann. Richtig lachen kann man aber nicht, weil sie eben auch Entscheidungen treffen“.

Mit diesem Satz komme ich zu deiner Anfangsfrage zurück, die sich auf die größte Konferenz im Zusammenhang mit der Kultur auf europäischer Ebene, Inclusive Europe? – Horizon 2020, bezog. Obwohl sich die Konzeption eindeutig mit den Themenkreis ‚Inclusion und exclusion’ beschäftigte, war für die Konferenz im Großen und Ganzen das Unter-den-Teppich-Kehren der Probleme charakteristisch. So scheute der Oberbürgermeister von Budapest nicht davor zurück, in einem Workshop zu behaupten, dass „es in Budapest keine Probleme ethnischen Charakters gibt“, und leider wurden auch die zwei größten Gefahren, der Ethnonationalismus und der Antisemitismus kaum thematisiert. Obwohl, wenn das aus mehreren hundert Teilnehmern bestehende hochrangige Konferenzpublikum für diese Fragen sensibilisiert gewesen wäre, dann hätte es zwischen zwei Kaviarhäppchen nur aus dem Fenster schauen müssen, um die ‚Juden-SZDSZ’(5)  Graffitis zu bemerken.

T: Den Oberbürgermeister kann ich insofern verstehen, als es vielleicht in Budapest tatsächlich keine so schwerwiegenden ethnischen Probleme gibt, wie z.B. die Schlägereien, die in der Vojvodina gegen ungarische Minderheiten gerichtet sind, und es gehört auch zur Wahrheit, dass nicht ungarische Städte es waren, in deren Außenbezirken Autos über Wochen angezündet wurden. Und die ‚Juden-SZDSZ’ Graffitis werden übrigens so zurückgegeben, dass das ‚F’ von den ‚Fidesz’-Graffitis(6)  durch ein Hakenkreuz ersetzt wird. Ich will also auf keinen Fall behaupten, was der Oberbürgermeister tut, dass es bei uns keine Probleme ethnischen Charakters gibt. Das größte Problem ist wahrscheinlich, dass wir jetzt anfangen müssten, uns mit diesen Problemen zu beschäftigen, solange wir die Möglichkeit dazu haben, dass wir also die immer größer werdenden Spannungen kulturell bewältigen. Ich bin mit dir einer Meinung, dass wir die Kultur und Kulturpolitik im weiten Sinne auffassen müssen. Wir müssten viel mehr als bis jetzt für das Schul-, Gesundheit und das Sozialwesen ausgeben, und auch für die Kultur im engeren Sinne (z.B. für das Pressewesen und die elektronischen Medien, Verlagswesen, Film, Theater, Musik usw.), während wir auch darüber reflektieren sollten, wie viel wir für was und warum wir es ausgeben. Denn zu Zeit verschwenden wir das Geld. Wir haben überall öffentliche politische Denkmäler aufgestellt (langsam werden es mehr, als in den vier Jahrzehnten der Rákosi-Kádár-Ära zusammen!), wir finanzieren politische Propagandakampagnen, und die nicht nur in den Zeiten vor den Wahlen, sondern über ganze Legislaturperioden hinweg (Plakate, Zeitungen, Filme, Feuerwerkparaden, Bälle, Konzerte, Militärtechnische Vorführungen, Schulbücher usw.). Wir verwenden das Geld für zwischenstaatliche kulturelle Austauschprogramme und nicht für den Ausbau eines langfristig funktionierenden Netzwerkes zwischen den Partnerinstitutionen, und wir erhalten ein öffentlich-rechtliches Mediensystem und ein Schulsystem aufrecht, das nicht den Ansprüchen der Gesellschaft, sondern denen der jeweiligen politischen Elite dient. Endlich wäre es an der Zeit, zu erkennen, dass die Wende nicht nur die Abwahl eines als Kommunismus gelogenen Systems bedeutete, sondern auch die Bekräftigung der Absicht, dass wir zu keiner der früheren politischen Systeme zurückkehren möchten.
 

Übersetzung:

1/  Erklärung zur deutschen Übersetzung: Die sog. ‚bürgerlichen Kreise’ sind zivile Gruppierungen, die auf landesebene ein Netzwerk bilden. Nachdem 2002 die Nationalkonservativen des Landes die Parlamentswahlen verloren hatten, rief deren Führer, Viktor Orbán zur Gründung vieler sog. Ziviler bürgerlicher Kreise auf, „um handeln zu können, wenn die Zeit kommt“.

2/ Anmerkung zur deutschen Übersetzung:János Kádár (1917-1989) stand von 1957, nach der blutigen Unterdrückung der ungarischen Revolution mit Hilfe von russichen Truppen, bis 1988 als Erster Sekretär der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei an der Spitze des Landes.
György Aczél (1917-1991), ab 1967 erster Zensor des Landes und bedeutendster Kulturpolitiker im realsozialistischen Ungarn. Wegen seiner außerordentlichen Feinfühligkeit war er ´zuständig´ für die Intellektuellen des Landes. Mit seiner berühmt-berüchtigten ´Zensur-der-drei-T-s´ (=´tiltott, türt, támogatott´, übers.: ´verboten, geduldet, gefördert´) entschied er über Sein und Nicht-Sein von Künstlern (RÉVÉSZ 1997).

3/ Anmerkung zur deutschen Übersetzung: Das Image Ungarns in dieser Zeit, die ‚lustigste Baracke’ im Ostblock zu sein, dürfte zu einem großen Teil auch der damaligen Kulturpolitik zu verdanken sein, wobei auch dieses Image heutzutage immer mehr den Charakter eines Mythos anzunehmen scheint.

4/ Anmerkung zur deutschen Übersetzung: Als Antwort auf die West-Einigung gründete die UDSSR 1949 den RGW (Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe).

5/ Anmerkung zur deutschen Übersetzung: SZDSZ ist die liberale Partei in Ungarn, die Antisemiten oft als die ‚Judenpartei’ bezeichnen. Das Wort ‚liberal’ gehört zu den ältesten antisemitischen Codes in Ungarn.

6/ Anmerkung zur deutschen Übersetzung: Fidesz-MPSZ (Fidesz-Ungarische Bürgerliche Union) ist die größte Oppositionspartei in Ungarn.

Literatur

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